Liebe Capulcus & friends
wir freuen uns eigentlich immer über Kritik, sofern sie konstruktiv, ehrlich, faktenbasiert und im besten Fall auch solidarisch ist. Euer offener Brief ist aber nichts davon. Link
Es scheint, als hätte sich bei euch in den vergangenen Jahren so einiges an Frust aufgestaut. Die Zäune, die Zugangskontrollen, die hierarchisierten Regeln in den Backstages… haben euch immer wieder an unserem linken Anspruch zweifeln lassen. Ihr kommt nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass wegen diesen Widersprüchen zu unserem zweifelhaften linken Anspruch und unserer scheinbar offenen Affinität zum Kapitalismus schon einige Crews die Fusion verlassen haben…
Bevor ihr zum Ende eures Textes in drei kurzen Absätzen inhaltlich interessante Theorien und Fragen aufwerft, erklärt ihr mit kruden Theorien was uns alles voneinander trennt.
Unser Corona-Konzept ist für euch nun offenbar der offene Bruch. Die Fusion, wie wir sie unter Corona-Bedingungen ermöglichen wollen, seht ihr als technokratische Dystopie und lehnt eure Teilnahme aus Angst vor DNA-Tests ab.
Eigentlich wäre an diesem Punkt ja alles gesagt und ihr hättet einfach eine gepflegte Biege machen und eure weitere Teilnahme aufkündigen können. Wir hätten euch noch nicht mal eine Träne nachweinen können, da ihr euch anonym haltet und wir gar nicht wissen, was (vielleicht) euer Beitrag zur Fusion war.
Vielleicht hättet ihr uns auch einfach mal kontaktieren sollen, um eure Fragen an uns zu stellen, bevor ihr einen offenen Brief veröffentlicht und uns darin allerlei Böses unterstellt. Vielleicht hätten wir euch damit ein paar Peinlichkeiten ersparen können. Euer Geschwurbel von DNA-Tests und Vollüberwachung können und wollen wir so nicht stehen lassen. Wir benutzen das Reizwort „Geschwurbel“ ganz bewusst, nicht weil wir euch in einen Topf mit Querdenker:innen stecken, aber Verschwörungstheorien machen scheinbar auch vor linksradikalen Bubbles und Theoriezirkeln keinen Halt.
Wir wollen daher im Folgenden ein wenig Licht in eure Schwurbelwelt bringen.
OMG: DATEN!
Wir geben den Kritik:innen Recht, dass es im Sinne unseres Corona-Testkonzeptes eine weitere unvermeidbare Verschärfung der Zugangskontrolle geben wird. Das ist jedoch nicht nur Corona, sondern auch dem Finanzamt geschuldet und für die Weiterführung des Festivals unvermeidbar. Fakt ist, wir speichern jedes Jahr von allen Besucher:innen und Mitarbeiter:innen bereits bei der Registrierung die Personaldaten. No Registration- No Ticket- No Entry! Dies gilt in diesem Jahr auch aus Gründen der Rückverfolgung im Falle eines positiven Testergebnisses ausnahmslos für alle. Wer also seine Personaldaten nicht angeben will, bekommt kein Ticket, kann auch nicht mitspielen oder mitfeiern.
PCR Tests und Sicherheit
Alle Mitarbeiter:innen werden ab Ankunft im Kulturkosmos 3 x die Woche PCR getestet. Alle Festivalgäste werden bei der Anfahrt oder Ankunft PCR getestet.
Alle Test-Daten verwalten wir streng getrennt von den persönlichen Daten aus dem Ticketing, aber ebenso sicher auf eigenen Servern in Lärz und löschen sie, sobald wir sie nicht mehr brauchen. Zwischen Personendaten und Testergebnissen gibt es keine Datenbankverbindung. Bei einem positiven Fall müssen die jeweiligen persönlichen Kontaktdaten händisch von uns nachgeschlagen werden.
Wer negativ getestet ist, wird in unserem Ticketing auf „grün“ geschaltet. Auf dem Chip am Eintrittsbändsel ist keine Information, lediglich eine Nummer gespeichert (UID). Mittels von uns registrierten Geräten kann diese Chip ID ausgelesen und der Status „grün“ oder „rot“ erkannt werden. „Rot“ kann verschiedene Gründe haben, wie z.B. positiv getestet oder noch in der Auswertung.
Die Polizei beschlagnahmt die Wattestäbchen!
Ihr sorgt euch, dass die Polizei oder das BKA alle PCR-Proben beschlagnahmen könnte. Wahrscheinlich hätten wir für Skeptiker:innen wie euch stärker erwähnen sollen, dass wir uns sehr viele Gedanken über die Sicherheit unseres Testsystems gemacht haben.
Die entnommenen PCR-Proben bekommen bei der geplanten Massentestung keinen Code, bleiben also anonym und können ausschließlich durch ihre Positionierung im Verlauf des Laborprozess einer Person zugeordnet werden. Nach der Analyse werden alle negativ Getesteten im Ticketing auf grün geschaltet und die Proben gehen direkt in den Müll. Weder wir noch irgendjemand anderes kann diese Proben wieder personalisieren.
Die Polizei oder das BKA könnten also theoretisch alle Proben mitnehmen und würden uns damit lediglich ein teures Entsorgungsproblem abnehmen. Würde aber nun – wie von euch befürchtet – die Polizei versuchen, unseren medizinischen Abfall zu beschlagnahmen, um daraus womöglich DNA zu generieren, dann würden wir uns selbstverständlich und garantiert erfolgreich dagegen gerichtlich zur Wehr setzen.
Das hätten wir euch, wenn ihr euch mit Zweifeln an der Sicherheit an uns gewendet hättet, auch sehr gern erklärt. Dass aber das ganze Szenario, eines personalisierten Massenscreenings, welches ihr jetzt aufzieht, grundsätzlich als realitätsfremd und paranoid bezeichnet werden muss, hat „team-bassliner“ in unserem Forum sehr treffend formuliert.
Wir wollen staatliche Überwachungsbegehren nicht kleinreden, aber niemand muss deshalb Schwurbler:in werden.team-bassliner hat geschrieben: ↑Mo 26. Apr 2021, 14:26DNA-Reihenuntersuchung
Für den Massen-DNA-Test, d.h. DNA-Untersuchungen an Personen, die einer bestimmten abgrenzbaren Gruppe angehören, gelten folgende Voraussetzungen:
Verdacht eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer Person,
schriftliche Einwilligung des Betroffenen und richterlicher Beschluss.
Das bedeutet, dass niemand verpflichtet ist, sich einem solchen DNA-Test zu unterziehen. Man sollte immer bedenken, dass zunächst sämtliche Daten gespeichert werden. Begründen jedoch bestimmte Tatsachen den Verdacht, dass eine Person die Straftat begangen hat, so kann die DNA-Untersuchung zwangsweise, d.h. nach § 81a StPO, angeordnet werden.
Das heißt:
Ein:e Richter:in müsste hier nach vorhergehender Personalienfeststellung 35.000 offensichtlich rechtswidrige Einzelanordnungen (geht nicht kollektiv!) gegen jede Person, die eine DNA-Probe abgeben hat, Verfassen und nach § 81a StPO begründen, warum genau die Person verdächtig ist, die Straftat begangen zu haben. (Hinweis: Es gibt 308 Richter:Innen in MV) Wohlgemerkt: ohne das die Person vorher die Möglichkeit hatte freiwillig DNA abzugeben - selbst das geht schon nicht. Letztlich wäre das rechtlich exakt so zu bewerten und auch durchzuführen, als würde die Polizei das Festivalgelände absperren und eine DNA-Reihentestung an ALLEN Gästen per Zwang durchführen. Selbst bei wirklich schwersten Straftaten wie einem Amoklauf gibt es keinerlei Präzedenz, dass der BRD-Rechtsstaat so ein vorgehen (zwangsweise DNA-Analyse 30.000 nicht konkret beschuldigter Bürger:innen) erlauben würde.
Contact Tracing
Ihr behauptet, wir würden die Corona-Warn-App großflächig einsetzen wollen und Menschen mit „personalisierten Bluetooth-Tokens“ ausstatten. Das hättet ihr „aus internen Kreisen“ gehört.
Diese Gerüchte haben WIR bisher nicht gehört. Da Mecklenburg-Vorpommern großflächig auf die privatwirtschaftliche, zentralisierte und alle persönlichen Daten sammelnde „Luca“-App setzt, mussten wir uns aber als Anmelder:innen selbstverständlich in einem Hygiene-Konzept dazu verhalten. Wir schreiben:
Die übliche Fusion-Besucher:in bewegt sich in einer Gruppe über das Gelände und hält an unterschiedlichen Open-Air-Bühnen für unbestimmte Dauer an. Die beschallten Aufenthalts- und Tanzbereiche sind dabei besonders weitläufig.
Manuelle Check-in-Systeme werden der Dynamik eines Open-Air-Festivalverlaufs grundsätzlich nicht gerecht: Nicht nur sind die ortsbezogenen Daten schwer zu erfassen, sie sind aufgrund der Größe der Bereiche für die Alarmierung von Personen wenig sinnvoll.
Damit erklären wir Luca eine klare Absage. Und ja, wir empfehlen daher unseren Besucher:innen die Nutzung der offiziellen "Corona-Warn–App" des Robert-Koch-Instituts.
Nirgendwo ist die Rede vom Zwang, diese dezentrale und vollständig anonyme App zu nutzen. Ganz im Gegenteil betreiben wir den hohen Testaufwand, um das Infektionsrisiko so gering zu halten, dass ein App-Zwang auch als potenzielle Auflage der Behörden nicht mehr vertretbar ist.
Das böse Gesundheitsamt
Eure Verschwörungsgedanken werfen die Frage auf:
Wäre es nicht möglich, dass das Gesundheitsamt die Genehmigung des Festivals nur erteilt, wenn im Gegenzug die Proben der 30.000 Menschen für ihr eigenes Modellprojekt genutzt werden können? DNA-Screenings auf unterschiedlichste körperliche Merkmale bei einer Testgruppe von 30.000 Menschen sind sicherlich im Zusammenhang mit der Epidemiologie sehr interessant. Wie verhält sich der Kulturkosmos bei so einer Forderung, wenn diese Mitte Juni kommt, wo schon viel Geld in die Vorbereitung geflossen ist?
Zu diesem sehr phantasievollen Szenario ist folgendes zu sagen:
1. Nicht das Gesundheitsamt erteilt die Genehmigung, sondern das Ordnungsamt.
2. Das Gesundheitsamt hat versichert, unser Testkonzept im Falle einer Genehmigung wohlwollend und konstruktiv zu begleiten.
Auch wenn ihr euch das nicht vorstellen könnt, arbeiten unseren Behörden im Allgemeinen gut mit uns zusammen und nicht gegen uns.
Das Gesundheitsamt in den von euch formulierten Verdacht zu stellen, Begehrlichkeiten auf unsere PCR-Proben zu haben, um dann DNA- Screenings zu generieren und damit im Interesse unseres Überwachungsstaates die linksradikale Bewegung biologisch zu vermessen… Da müsst ihr euch doch eigentlich selbst an den Kopf schlagen. Aber für die Frage: „Wie verhält sich der Kulturkosmos bei so einer Forderung, wenn diese Mitte Juni kommt, wo schon viel Geld in die Vorbereitung geflossen ist?“ müssten wir das eigentlich bei euch tun.
Diskurs & Praxis
Euer Brief kommt fast am Ende in drei kurzen Absätzen auf durchaus diskutierbare Fragen und Themen, die auch die Frage aufwerfen, wieweit wir als linke Kultur-Veranstaltende und Kulturschaffende eine Verantwortung haben, der weitgehenden sozialen Kontrolle des pandemiebezogenen Ausnahmezustands kritisch zu begegnen und wie wir darauf achten, einer zunehmenden technologischen Überwachung der Gesellschaft keinen Vorschub zu leisten.
Allerdings scheint uns dies nur der inhaltliche Rahmen, den ihr aus eurem vor kurzem erschienen Textband „Hefte zur Förderung des Widerstands gegen den Technologischen Angriff“ per copy & paste zusammengeschnipselt habt und den es vielleicht brauchte, um eure Kritik an der Fusion intellektuell zu verpacken. Schade eigentlich, das Heft scheint inhaltlich deutlich gehaltvoller als euer Brief.
Abschließend wollen wir Folgendes erklären: Das vorgestellte Festival-Konzept lässt sich, wenn überhaupt, nur mit Kontrollen, Checkpoints, Zäunen, Ausschluss, viel Security, bei positiv Getesteten mit Quarantäneanordnungen und Kontaktnachverfolgung und in Kooperation mit staatlichen Behörden durchsetzen. Uns ging es aber noch nie darum, die Fusion um jeden Preis durchzusetzten und jedes Jahr setzten wir uns neu mit der Frage auseinander, wo unsere Rote Linie verläuft. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb, haben wir es in all den Jahren geschafft, trotz aller Restriktionen einen für uns und vermutlich fast alle Beteiligten unvergleichlichen Freiraum zu schaffen.
Fazit
Kontrolle mittels Zäunen, Checkpoints, Hierarchien und Security, sind Festivalrealitäten, die für Großveranstaltungen immanent sind und die wir mit dem Wachstum der vergangenen Jahrzehnte gezwungener Maßen einführen mussten. Kontrolle wird auch in der Zukunft eine Voraussetzung sein, um ein Festival mit 35.000 oder 80.000 Menschen sicher und umso mehr in diesem Jahr pandemiebedingt durchzuführen. Das ist der einzige und unvermeidbare Weg; die Alternative bedeutet: kein Festival. Wir wissen um die Schwierigkeit der Balance zwischen den uns vorgegeben Bedingungen und der von uns als Kuko verfolgten Ideale Wir wissen auch, dass die Fusion darüber hinaus ein großes Potenzial für individuelle Idealisierung bietet.
Wir finden es legitim und respektieren es, wenn Menschen entscheiden, dass ihnen die Widersprüche und der Preis für die Realisierung des Festivals unter diesen Bedingungen zu hoch sind. Wir erwarten aber auch, dass diese Menschen dann selbstbestimmt entscheiden auf ihre weitere Teilnahme und/oder Teilhabe zu verzichten.
Auf Wegelagerer:innen und Heckenschütz:innen, die sich nicht ohne den Versuch verabschieden können, unseren politischen Anspruch in Frage zu stellen, um am Zusammenhalt und der Solidarität der Community zu wackeln, können wir gern verzichten.
Und noch was, was uns in diesem Zusammenhang wichtig erscheint:
Wir verstehen uns nicht als eine organisierte Politgruppe, deren Ziel Theoriebildung, Aktionismus, Identitätsfindung oder die Revolution ist.
Wir verstehen uns als eine heterogene, aber in der Praxis und in Krisen zunehmend homogen agierende Gruppe verschiedener Menschen, mit unterschiedlichen Backgrounds, Erfahrungen, und Kompetenzen. Wir sind alle divers und linksalternativ sozialisiert und gemeinsam getrieben, der Welt ein Festival zu bescheren, das primär den Anspruch hat, in dialektischer Mission aus hedonistischer Bewusstseinsbildung heraus, temporäre utopische Realitäten zu erschaffen.
Darüber hinaus ist in den vergangenen Jahren um die Fusion ein riesiges Netzwerk entstanden, welches sich ebenfalls aus Menschen mit diversen linken Backgrounds, Erfahrungen und Kompetenzen zusammensetzt. Darunter sind viele Gruppen und Einzelpersonen, die sich auf unterschiedliche Weise im Kampf für eine bessere Welt engagieren. Zusammen erschaffen wir, sofern keine Pandemie über uns hereinbricht, jedes Jahr dieses unvergleichliche Festival mit seinen vielen utopischen Ausblicken, Feldstudien und Experimenten für eine bessere Welt.
Und zwar gemeinsam!
Kulturkosmos 30.04.2021